Starreportage: Hartmut Freund - der wohl ungewöhnlichste Tischtennisstar der Welt | STERN.de

2021-12-07 01:59:23 By : Ms. Landy Lan

Hartmut Freund ist 48 Jahre alt und beantwortet die Frage "Wie geht es dir?" mit: "Wie geht es Hartmut? Hartmut geht es gut". Mit seinen wohlwollenden braunen Augen schaut er Gesprächspartner an, lächelt, wiederholt ihre Sätze, bringt sie aber nicht in einen Kontext. Er kann nicht sagen, ob ihm kalt, durstig oder krank ist. Er litt einmal wochenlang an einer Blinddarmentzündung, ohne dass es jemand bemerkte. Er kann nicht allein duschen oder die Toilette benutzen; er ist allein hilflos. Ein Fall für zu Hause. Pflegestufe 2, IQ 46, starke Pflegebedürftigkeit, schwere geistige Behinderung, alles so verdammt schwer, wenn es nicht etwas gäbe, was Hartmut Freund aus Bietigheim bei Stuttgart besser kann als Forrest Gump: Tischtennis spielen.

"Hartmut, da drüben ist eine Platte frei", sagt Maximilian, "aufwärmen". - "Aufwärmen, Hartmut, aufwärmen", sagt Freund. Er geht um die Tischtennisplatte herum und kreist mit den Armen. Am Freitagabend, kurz vor 20 Uhr, startet direkt das Männertraining im TTC Bietigheim-Bissingen. Maximilian ist ein junger Spieler. Er trainiert einmal die Woche mit einem Freund. Zuschlag. Zurückkehren. Gegenspiel. Als das Trikot und die Hose seines Freundes schweißnass sind und seine Bewegungen langsamer werden, muss er ihn aufhalten. Freund würde weiterspielen. Maximilian ist nicht behindert. Hier ist niemand behindert. Für die anderen Sportler ist es auch kein Freund. Er ist ein wichtiges Mitglied der Kreisligamannschaft. Und ein Star des deutschen Behindertensports. "Hartmut ist eine Berühmtheit", sagen sie. Es beginnt. "Uiiijaaa, gut, Hartmut, sehr gut, Hartmut", ruft Freund, ballt die Fäuste und stampft auf den Boden.

Kaum tritt er an die Platte, treten unverständliche Reflexe aus seinen trägen Bewegungen, die Schwere weicht einer Spielfreude, in der alles entladen scheint, was dem Freund sonst verwehrt bleibt. Tausende schauen sich seine Videos im Internet an, staunen, wie dieser Typ mit Kniebandagen, Stirnbändern, Glatze und Helmut-Kohl-Brille die Schläge seiner jüngeren Gegner pariert, in die Defensive drängt und sich über kompetitive Ballwechsel freut. Wo immer Freund spielt, ist er die Attraktion, der tanzende Bär im Wanderzirkus. Zwischen den Punkten hebt er oft den Zeigefinger und gibt sich selbst Anweisungen: „Träne, Hartmut, reiß“, „Grundstellung, Hartmut, Grundstellung“. "Herzlichen Glückwunsch, Hartmut, herzlichen Glückwunsch", sagt er, wenn ein Spiel vorbei ist. Ob er gewonnen oder verloren hat, erfährt er erst nach dem Spiel, weil er nicht zählen kann.

Schuld daran ist die Hebamme. Da ist sich Edeltraut Freund, 75, sicher. Hartmuts Mutter ist eine kleine grauhaarige Frau, die wie der Rest der Familie Schwäbisch spricht. Früher arbeitete sie als Kellnerin, ihr Mann Gregor als Härter in einem Metallbetrieb. Sie waren Maler, jetzt sind Sie im Ruhestand. Stolz auf das Erreichte, auf Haus, Garten, Auto, Ersparnisse, Söhne. Wäre da nicht dieser 29. Januar 1968. An diesem Tag wurden am frühen Morgen die Zwillingsbrüder Hartmut und Holger geboren. Der Chefarzt ist nicht pünktlich im Zimmer. Die Hebamme, die zuschauen sollte, ist eingeschlafen. Das sagt uns Edeltraut Freund. Was genau schief gelaufen ist, kann sie nicht sagen. Erstdiagnose: akuter Sauerstoffmangel im Gehirn der Kinder.

Holger Freund kommt mit einer Lernschwäche davon. Er ist in seiner Intelligenz eingeschränkt, aber nicht geistig behindert. Er kann selbstständig leben und hat auf die Familie verzichtet, weil er ihr nicht verzeiht, ihn auch als Behinderten zu behandeln. Hartmut Freund wird ein unabhängiges Leben verwehrt. Er ist im Kindergarten noch nicht clean, geht auf eine Sonderschule, bleibt auf der intellektuellen Ebene eines Kleinkindes hängen.

Kein Arzt kann den Freunden eine genaue Diagnose stellen, zu denen auch ihr Sohn Norbert gehört, der zwei Jahre vor den Zwillingen geboren wurde. Viele von Hartmuts Bewegungen und Eigenheiten erscheinen autistisch, aber sie wissen bis heute nicht, ob sie es sind. Sie wissen nur, dass er deine Hilfe braucht, dass sie ihn niemals in ein Heim stecken würden. Die Freunds machen den Sohn und den Bruder zur Lebensaufgabe. Sie leben weniger von ihrem Leben, damit er mehr von seinem haben kann.

„Sein Glück ist auch unser Glück“, sagt Gregor Freund, 79, der Vater. Aber woher wissen Sie, was sein Glück ist? „Das kann man natürlich nicht immer sagen“, sagt Norbert Freund, 50, der Bruder. Aber eines ist er sich sicher: Hartmut geht es gut, wenn er Tischtennis spielt. Der große Bruder ist die Pflegekraft von Hartmut Freund. Norbert Freund sieht mit seinem Schnurrbart aus wie eine Figur aus einem Film der Coen-Brüder. Ein intelligenter Nerd, der Politik und Romantik studiert hat. Er ist die Brücke zu seinem Bruder. Er übersetzt die Welt für ihn und erklärt der Welt, wie er glaubt, dass sein Bruder sie sehen wird. Nach all den Jahren hält er den Anspruch, dies zu wissen, in den meisten Fällen für berechtigt.

Norbert Freund gibt seinem Bruder seine Blütezeit. Vor drei Jahren hat er seinen Job als Politikredakteur bei der "Saarbrücker Zeitung" gekündigt und ist in sein Elternhaus zurückgezogen. Er rechnete damit, dass Renten und Ersparnisse bis zum Schluss reichen müssten. Seine größte Sorge ist, dass Hartmut den Tod seiner Eltern nicht verkraften könnte, er könnte sie sogar alle überleben.

Norbert Freund verzichtet auf seine eigene Familie, schläft im Keller. "Wo ist Norbert?" Fragt Hartmut gleich morgen früh. Als er ihn gefunden hat, reibt er seine Wange an der seines Bruders. „Gute Nacht, Norbert“, sagt er vor dem Zubettgehen.

Als er sieben Jahre alt war, brachte ihn sein Bruder zu seinem Onkel, der eine Tischtennisplatte besaß. Sie schnitzten seinen ersten Schläger aus Sperrholz, weil sie befürchteten, er würde einen echten brechen. Freund hat neben seiner Behinderung auch Epilepsie und Diabetes. Er bekommt Medikamente gegen die epileptischen Anfälle. Diabetes ist besser geworden, seit er durch so viel Sport abgenommen hat.

Niemand hat erwartet, dass Tischtennis Spaß macht. Der Sport, bei dem man blitzschnell auf den Schlag des Gegners reagiert und gleichzeitig einen eigenen Plan entwickeln muss, ist zu anspruchsvoll. Aber Freund brachte mit seinem Sperrholzschläger einen Ball nach dem anderen zurück. Er versank in das Spiel. "Gut, Hartmut", sagte der Bruder, "du machst es gut." Freund versteht vielleicht wenig, aber er fühlt viel. Er wurde gelobt. Er genoss die Ballsache. Er war gut darin. Er wollte immer jetzt spielen.

Die Freunds zogen in ein neues Haus, nun lag ihr eigener Rekord im Hobbyraum. Die Brüder praktizierten zusammen, das Üben wurde zur Ausbildung. Norbert Freund spielte im Verein, nahm seinen Bruder mit und erklärte den anderen, wie man mit ihm umgeht. Dass Sie nicht gestört werden sollten, wenn er mit sich selbst redet, dass Sie ihm sagen müssen, wo er im Doppel stehen soll. Die Freunds lebten Inklusion, bevor der Begriff in Mode kam. Nicht nur im Sport.

Sie glaubten, dass Hartmut einen Job machen würde. Sein Vater brachte ihn in die Metallhütte. Sie wollte keine Behinderten. Gregor Freund drohte mit Rücktritt, wenn man ihm keine Chance ließe. Er hat sich durchgesetzt. Vater und Sohn fuhren jahrelang zusammen zur Arbeit. Hartmut bediente eine Strahlmaschine, musste nur zwei Knöpfe drücken. Er verdiente Geld, auch wenn es ihm nichts bedeutete. Er notierte sich die Namen der Kollegen.

Freund war beliebt, ein Maskottchen, das ständig schwatzte. Aber es kam ein neuer Kollege. Schaltete den Strom immer wieder aus, weil sie glaubte, er mache Fehler. Irgendwann schlug er ihr in die Hand. Seinen Job verloren. Der Fall landete vor Gericht, Freund erhielt eine für ihn nutzlose Abfindung. Er wurde depressiv, zog sich zurück wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Habe ihn erst verlassen, als er zur Platte gehen durfte. Die Traurigkeit verflog, sobald er den Ball über das Netz spielte.

Der Sport diente als Therapie, bis die Freunds in den Urlaub nach Ungarn fuhren. Ein ungarischer Bekannter sah Freunde spielen und war begeistert. Mit dem richtigen Training könne man aus ihm einen sehr guten Spieler machen, sagte er. Freund trainierte bald zweimal täglich.

Da sein Gehirn nicht auf die verschiedenen Schläge des Gegners reagieren kann, muss er die Ballwechsel automatisieren und trainieren, bis sie in seinem Unterbewusstsein verankert sind. Wenn sein Gegner einen kurzen Aufschlag macht, weiß Freund ihn zu parieren, weil er ihn schon so oft geübt hat. Die Trainer seiner Gegner raten ihm zu Schnitten, zu überraschenden Schlägen, da er keine Antworten findet. Dass seine Gegner die Anweisungen umsetzen können, zeigt dem Freund, dass seine Gegner weniger gehandicapt sind als ihr Hartmut. Was seine Leistung steigert, wie sie betonen. Behindertensport ist nicht fair.

Freund versteht nicht, was mit Vorhand, Rückhand und Aufschlag gemeint ist. Der Trainer begnügt sich mit Synonymen. Die Vorhand ist Schnitzel, die Rückhand ist Bienenstich, seine Lieblingsgerichte. "Spiel mit dem Schnitzel, Hartmut", sagt er. Die Zuschläge werden auch mit Namen versehen. Einer wird Kakao genannt, weil ein Freund ihn nach dem Training trinkt. Den langen, schnellen Aufschlag auf die gegnerische Rückhand nennen sie "scharfe Annette", weil Freund gerne mit einem Zwölfjährigen spielt. Sie heißt Annett, aber er nennt sie Annette.

Die ersten Erfolge zeigen sich. Bei der Europameisterschaft 2011 in Split schlägt Freund Spieler, die in der Rangliste vor ihm liegen. Für geistig behinderte Sportler gibt es nur eine Startklasse. Freunds Gegner sind jünger und meist nur lernbehindert, ihr Handicap kann man nicht erkennen. Ihn schon. Er ist der Underdog, er wird vom Publikum angefeuert. Die Freunde spüren, dass ihr Hartmut eine Ausstrahlung hat, die Menschen bewegt. Dass seine Begeisterung dich mitreißt. Er berührt diejenigen, die sich zunächst schämen, weil sie nicht wissen, wie sie mit diesem Mann umgehen sollen. Ohne Anweisungen machen ihn die Freunds zum Profi.

Norbert Freund findet Sponsoren, die seinen Bruder unterstützen. Ein Autohaus in Bietigheim stellt ein Auto zur Verfügung. Die Stadtwerke geben Geld, das Reha-Zentrum kümmert sich um ihn. Norbert Freund wird Manager, sein Bruder sein Projekt. Er arbeitet pedantisch, sitzt nachts vor dem Computer, analysiert Gegner, bucht Fahrten und legt sich mit dem Behindertenverein an. Das alles macht er, weil er meint, Hartmut sei damit einverstanden.

Es geht ihm gut, wenn er seine Gewohnheiten beibehalten kann. Er mag keine Veränderungen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen legt er den Kalender neben sein Bett. Er hat Frühstücksbrot mit Butter und Marmelade. Er hört im Radio immer Antenne 1, er mag Pop- und Volksmusik. Freund schwimmt gerne, aber nur im Freibad Aspach. In Supermärkten geht er durch denselben Eingang ein und aus. Die Freunds essen oft zu Mittag beim Chinesen. Es gibt ein Buffet zu einem guten Preis. Freund geht immer links am Aquarium vorbei.

Die Unfähigkeit, mit Fremdem umzugehen, sei ein typisches Merkmal von Autismus, sagt Norbert Freund. Aber warum setzt er ihn dem aus? Wirst du ihn zu Turnieren in Ecuador oder Thailand mitnehmen? Spielt er vor Leuten, die seine Macken nicht einordnen können, schimpft er unfair? Tun die Freunde ihrem Hartmut im Leistungssport einen Gefallen oder trainieren sie den Bären aus Versehen, weil etwas von seinem Glanz auf sie zurückfällt?

"Hartmut macht Spaß an den Wettkämpfen. Und wenn mein Vater und ich Ausflüge machen, die wir sonst nie machen würden, warum nicht?" Sagt Norbert Freund.

Auf einer Tour zu einem Turnier in Ecuador sehen die drei Freunde den Vulkan Cotopaxi. Hartmut Freund sitzt am Fenster des Busses und staunt. In Ecuador essen sie jeden Abend Kartoffelsuppe. Über die Öresundbrücke fahren Sie nach Malmö. Er kann nicht glauben, wie lange es dauert. Von Malmö fliegen sie nach Italien. Hartmut Freund sitzt im Flugzeug immer zwischen Bruder und Vater. Am Anfang hat er Angst. Er schließt die Augen und streckt beiden die Hand entgegen. "Du kannst deine Augen öffnen, Hartmut", sagen sie, als sie die Reiseflughöhe erreicht haben.

Als Hartmut Freund aufgrund einer Schulterverletzung nicht spielen konnte, setzte ihn sein Bruder auf einen Heimtrainer, um an seiner Ausdauer zu arbeiten. Urlaub machen sie nur in Hotels mit Tischtennisplatten, auch Hartmut muss im Urlaub trainieren. Norbert Freund postet Bilder und Videos seines Bruders auf Facebook. Seine Erfolge wären ohne ihn nicht möglich, sie gehören ihm auch. Während der Spiele steht er der Bande und den Trainern zur Seite. "Sehr stark, Hartmut", ruft er, oder: "Heiße Annette spielt jetzt!" - "Scharfe Annette, scharfe Annette", sagt Hartmut Freund und schlägt dann lange auf die Rückhand des Gegners.

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